10.000 Kilometer zu den deutschen Wurzeln
Seit 1808 im Russischen Reich
Als ich mit meinem Freund Gleb Kasper aus der Moskauer Garage rollte, dachte ich, 21-jähriger Jurastudent, ich würde einfach „das Land anschauen“. Doch während auf dem Tacho die Tausender nach oben kletterten – Goldener Ring, Wolga, Ural, endlose Steppen –, wurde mir immer klarer: Das hier ist kein Tourismus. Das ist eine Rückkehr. Rund 10.000 Kilometer durch Russland und Kasachstan, um zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen, was für mich bisher nur in Familienerzählungen existiert hatte.
Ich bin Russlanddeutscher. Die Geschichte meiner Familie ist zugleich klassisch und einzigartig für unser Volk. Meine Vorfahren kamen 1808 ins Russische Kaiserreich. Als Auswanderer aus der Pfalz, dem Elsass und Baden fanden sie eine neue Heimat in den Kutschurganer Kolonien bei Odessa, wo sie dann über hundert Jahre lang friedlich die Felder bestellten und in ihren katholischen Kirchen beteten. Doch das 20. Jahrhundert setzte diesem Leben ein Ende. In den 1940er Jahren wurde die Familie Bossert, wie auch Hunderttausende andere Deutsche, deportiert.
Eine zuvor kompakt lebende Verwandtschaft wurde über die riesige Karte der Sowjetunion verstreut. Mein eigener Zweig landete in Mittelasien – in Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan. Andere Verwandte kamen nach Sibirien und in den Ural. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderte der größte Teil meiner Großfamilie – Urgroßeltern, Onkel, Tanten, Cousins – als Spätaussiedler nach Deutschland aus. In Russland blieben nur mein Vater und seine Eltern zurück.
Ich kannte all diese Fakten: Daten, Listen, Namen. Die Generation meiner Großeltern hatte den Stammbaum sorgfältig zusammengetragen, und ich half, diese Daten zu ordnen. Aber es ist etwas anderes, ob man einen Dorfnamen in einer Archivauskunft liest oder ob man mit beiden Füßen in diesem Dorf steht. Mein Ziel war es, diese „weißen Flecken“ zu schließen und herauszufinden, ob es dieses „deutsche Russland“ überhaupt noch gibt.
Der erste Stopp
Es ging für mich und Gleb Kasper über den Ural nach Sibirien. Der erste wichtige Halt war das Gebiet Omsk. Im Issilkuler Rajon, in den Nachbardörfern Krasnowosnessenka und Barrikada, lebte seit 1948 ein Teil meiner Familie nach der Deportation. Hierher kam mein Ururgroßvater Anton Bossert, zusammen mit der Familie seines Sohnes Pius.
Wir fuhren mit einer besonderen Mission nach Krasnowosnessenka. Im Kofferraum lag eine in Moskau angefertigte Keramikplatte mit dem Foto, Namen und den Lebensdaten meines Urgroßvaters. Unter den Deutschen im Ural und in Sibirien war es damals üblich, einfache Metallpyramiden mit einem Kreuz aufzustellen – für mehr reichte es oft nicht, materiell wie innerlich. In unserer alten Heimat am Schwarzen Meer dagegen war die Anfertigung kunstvoller Grabkreuze fast ein eigener Beruf gewesen.
Wir fanden das Grab. Wir befestigten die Platte auf dem alten Stein. Wir sprachen ein Gebet. In diesem Moment, auf dem windigen Steppenfriedhof, spürte ich etwas, das sich schwer in Worte fassen lässt. Es war das Gefühl, eine Pflicht gegenüber meiner Sippe erfüllt zu haben. Der Mann, der unsere Familie in ihren schwersten Zeiten zusammenhielt, hatte nach so vielen Jahren endlich ein Gesicht auf seinem Grabstein. Krasnowosnessenka selbst leert sich heute, viele Häuser stehen verlassen, das alte Zuhause ist jetzt kaum zu erkennen.
Aus Deutschland kommentiert
Die nächste wichtige Station lag jenseits der Grenze, im Norden Kasachstans. Wir überquerten die Grenze, um nach Kellerowka zu fahren (heute in der Region Nordkasachstan). Hier wurde meine Großmutter geboren. Kellerowka ist ein besonderer Ort: Seit 1905 lebten hier deutsch-katholische Siedler aus dem Schwarzmeergebiet und der Wolgaregion, später kamen Polen hinzu.
Ich lief mit dem Handy in der Hand durch das Dorf und war mit meiner Tante Lisa verbunden, die heute in Deutschland lebt. Sie war mein Navigator durch die Zeit: „Hier haben deine Leute gewohnt – die Bosserts, dort die Steierts, dort die Doschs, und da hinten an der Autobahn die Schumachers …“ Das Haus der Bosserts hat die Jahrzehnte des Leerstands nicht überstanden. Es ist verfallen. Ich trat an die Ruine heran und löste ein kleines, versteinertes Stück Lehmziegel aus der Wand. Dieser Klumpen ist mir heute wertvoller als jedes Souvenir.
Wir gingen auch auf den alten Friedhof. Er war wie ein Geschichtsbuch des Dorfes unter freiem Himmel. Der ältere Teil mit Grabsteinen in Frakturschrift ist von Birken überwuchert, aber die Namen sind noch gut lesbar. Hier liegen ganze Generationen – Zeugen von Blüte, Alltag und Tragödien der deutschen Kolonie. In Kellerowka selbst gibt es heute kaum noch Deutsche, die meisten sind weggezogen, aber die römisch-katholische Pfarrei des heiligen Franziskus von Assisi besteht bis heute und erinnert an die Wurzeln dieses Ortes.
Die Geografie dieser Reise war ständig mit den Linien der Familie verknüpft. In der Oblast Nowosibirsk lebte zum Beispiel die Familie Pohl, im Altai, etwa im Deutschen Nationalrayon, die Familie Schultheiß. Im Gebiet Swerdlowsk, durch das wir zu Beginn unserer Fahrt kamen, saßen viele unserer Verwandten in Lagern – in Nischni Tagil, Karpinsk, Asbest. Ich war noch nicht an diesen Orten, aber allein vorbeirzufahren war wichtig, um den Kreis des Gedenkens zu schließen.
„Unsere Leute“ sind überall
Wir waren zu Gast bei Mennoniten im Dorf Solnzewka, wo uns Streuselkuchen auf dem Tisch erwartete und wir über die Unterschiede zwischen ihrem plattdeutschen und unserem südfränkischen Dialekt sprachen. Wir besuchten das lutherische Dorf Litkowka, wo die Menschen trotz ihrer Abgeschiedenheit eine einzigartige Kultur und sogar ihren brandenburgisch-pommerschen Dialekt bewahrt haben. Wir sahen lutherische Kirchen und mennonitische Gemeinden, die keine Museumsstücke sind, sondern Menschen vereinen.
Eine vielsagende Szene erlebten wir an der Grenze. Als wir von Russland nach Kasachstan fuhren, trug der Grenzbeamte den Nachnamen Körbel. Er fragte, wohin wir unterwegs seien, und ich antwortete: nach Kellerowka. Wir mussten einander nichts weiter erklären. Zwei Russlanddeutsche trafen sich mitten in der Steppe an der Grenze zweier Staaten. Dieses Gefühl eines unsichtbaren Netzes, das uns alle verbindet, wo immer wir auch leben, gehört zu den wärmsten Eindrücken der Reise.
Auf dem Rückweg, als wir bereits durch Tatarstan wieder Richtung Moskau fuhren, kam ein dritter Passagier an Bord – eine Katze, die ich auf einem Parkplatz aufgelesen und Edna genannt habe. Sie fuhr die letzten 1300 Kilometer mit uns und wurde zu einem lebendigen Symbol dafür, dass man von jeder Reise als ein anderer Mensch zurückkehrt.
Guter Nachgeschmack
Diese Autoreise hat einen der größten Stereotypen zerstört, den man in Moskau oder in Deutschland oft hört: „Da ist doch nichts mehr, alles längst verschwunden.“ Das stimmt nicht. Mich hat es überrascht, dass das deutsche Leben jenseits des Urals vielerorts boomt. Es ist wie ein Netzwerk von Oasen, ausgedehnt von einem deutschen Ort zum anderen. In der Oblast Omsk, im Altai gibt es noch gepflegte Dörfer, dort wird auch noch Deutsch gesprochen und die Bräuche werden bewahrt. Dazu kommen hierher noch Deutsche aus Deutschland: Die Geschichte der deutschen Einwanderung in Russland ist nicht zu Ende.
Nach 10.000 Kilometern und Begegnungen mit so vielen Menschen bin ich überzeugt, dass das Deutschtum aus unseren Breitengraden nicht verschwunden ist. Was sich verändert hat, ist für Außenstehende weniger sichtbar geworden, aber es ist nicht erloschen. Dies lebt in Familienrezepten, in Dialektwörtern, in gepflegten Häusern mitten in der sibirischen Weite, in spontanen Begegnungen und in der Frage: „Bei so einem Nachnamen – sind Sie zufällig Deutscher?“
Es gibt so eine Art „Kreislauf“ der Lebenswege zwischen Russland, Kasachstan und Deutschland. Einige meiner Verwandten haben ihre historische Heimat Deutschland als Wohnsitz gewählt. Nach zwei Jahrhunderten nahm die Familiengeschichte eine neue Kurve. Die anderen bleiben in den Weiten Sibiriens und des Urals, also in ihrer eigentlichen Heimat. Die Russlanddeutschen bildeten und bilden immer noch eine Art Brücke zwischen Russland und Deutschland. Wenn die jüngeren Russlanddeutschen glauben, dass die Geschichte nur in den verstaubten Büchern lebt, irren sie sich. Wir sind Teil von dieser Geschichte. Solange wir unsere Sprache sprechen, solange wir uns freuen, wenn wir „unsere Leute“ erkennen, wird sie andauern.
Запись 10.000 Kilometer zu den deutschen Wurzeln впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.