Er schwärmt von familiärem Glück, bekreuzigt sich mit Inbrunst und spricht bei jeder Gelegenheit über traditionelle Werte. Doch wie steht Wladimir Putin wirklich zu Glauben und Familie? Seit Jahren inszeniert sich Wladimir Putin als Hüter vermeintlicher traditioneller Werte, als konservativer Führer, als Beschützer orthodoxen Glaubens. Doch laut dem russischen Investigativjournalisten und Putin-Kenner Michail Rubin ist dieses Image eine Fassade, Lug und Trug. Rubin beobachtet und analysiert Wladimir Putins Politik und Person seit mehr als einem Jahrzehnt. Im Interview mit t-online spricht er über Putins Verhältnis zu Religion, Familie – und Frauen. t-online: Herr Rubin, Ihr bisher letztes Buch heißt "Der Zar höchstpersönlich – wie Wladimir Putin uns alle getäuscht hat". Wen hat er getäuscht? Und wie? Michail Rubin: Er hat uns alle getäuscht. Putin hat ein Bild von sich geschaffen, das er selbst brauchte – und das die russische Propaganda brauchte. Dieses Bild war nie konstant. Sein Image hat sich mehrfach verändert, je nach politischer Lage. Und doch ist es ihm gelungen, über Jahre hinweg eine Figur zu erschaffen, die funktionierte. Er hat Mythen über sich erzeugt. Und an diese Mythen haben alle geglaubt. Wer ist mit diesem "alle" gemeint? Die Russen, die in Russland geblieben sind; die Russen, die emigriert sind; westliche Beobachter. Selbst Menschen, die sich gut mit Russland auskennen, folgen noch immer diesem von Putin konstruierten Mythos. In diesem Sinn hat er wirklich alle getäuscht. Das Bild, das er geschaffen hat, ist aber falsch. Es ist unwahr. Dahinter steht eine enorme Menge an Lügen – Mythen, bewusst erzeugt oder unbewusst übernommen. Aber sie prägen bis heute unseren Blick auf ihn. Tödliche Kombination: "Wladimir Putin hat die ungeheuren Vorteile des Kriegs entdeckt" Russland ist ein Land ohne Moral: Sex ist Wladimir Putins stärkste Waffe Welche Mythen sind das, an die so viele glauben? Im Westen hat Putin etwa das Image eines konservativen Anführers. Aber was versteht man im Westen darunter? Einen Menschen mit bestimmten Wertvorstellungen, oft verbunden mit Glauben und Religion. Putin spricht selbst ständig über traditionelle Werte. Religiöse Werte sind ein Teil davon. Deshalb hat mich immer besonders interessiert: Glaubt Putin eigentlich an Gott? Zu welchem Ergebnis kommen Sie? Er ist auf jeden Fall zutiefst abergläubisch. Eine unserer Quellen, eine Person, die Putin gut kennt, schilderte einmal eine Szene, die für sich spricht: Bei einem Spaziergang durch seine Residenz lief Putin irgendwann zu Beginn seiner Herrschaft eine schwarze Katze über den Weg. In Russland gilt das als schlechtes Omen. Und was tat Putin? Er bekreuzigte sich. Daran ist nichts Schlechtes – es ist sehr menschlich. Aber es zeigt ein postsowjetisches Verständnis von Glauben, das Mystik und Aberglauben kombiniert. Wie passt dieser Aberglauben zur Selbstdarstellung als Verteidiger traditioneller orthodoxer Werte? Die orthodoxe Kirche lehnt jede Form von Aberglauben ab. Putin hat zwar den Mythos geschaffen, er sei ein konservativer Anführer, der traditionelle Werte verteidigt. Mit der Verteidigung traditioneller Werte hatte er aber nie etwas zu tun – und tut es bis heute nicht. Sein Verhältnis zur Familie, zur Religion, zum Glauben: All das steht im Widerspruch zu diesem Bild. Begriffe wie "traditionelle Werte", die er ständig benutzt, sind inhaltlich leer. Putin ist weit entfernt von Familienwerten, weit entfernt vom Glauben. Putins Religiösität ist nur Theater. Er ist kein konservativer, traditioneller Anführer im westlichen Verständnis. Wie gelingt es Putin dann, diese Widersprüche zu überdecken? Innerhalb Russlands ist das relativ leicht zu erklären. Putin ist ein sehr "volkstümlicher" Mensch. Er entspricht einem tief verankerten gesellschaftlichen Bedürfnis – denn viele Russen teilen seine demonstrierten Ansichten zu Religion, Familie und Moral. Dazu muss man wissen: Russland hat im 20. Jahrhundert extreme Brüche erlebt: Aus einem tiefgläubigen Land wurde ein Staat, der Religion bekämpfte und Kirchen sprengte. Nur um anschließend wieder zu einem Staat zu werden, der die orthodoxe Kirche verehrt. Diese radikalen Umbrüche haben Geschichte und Werte zerstört. Der durchschnittliche Russe hat deshalb kaum gefestigte politische Werte oder ein klares historisches Selbstverständnis. Putin ist in diesem Sinn selbst ein Produkt dieser Entwicklung. Wie zeigt sich das konkret beim Thema Religion? Umfragen zeigen ein sehr klares Bild: Eine große Mehrheit der Russen bezeichnet sich als gläubig, viele als orthodox. Aber nur etwa ein Prozent geht regelmäßig in die Kirche. Das ist entscheidend: ein bisschen Religion, ein bisschen Aberglaube, ein gelegentliches Bekreuzigen. Genau hier trifft Putin den Nerv. Er verkörpert die Ambivalenz eines Landes, das innerhalb eines Jahrhunderts extreme religiöse Gegensätze erlebt hat. Gilt das auch für sein Familienbild? Ja. Putins Ansichten zur Familie widersprechen der Mehrheit der Russen nicht. Die Scheidungsrate ist hoch, das wird zwar moralisch kritisiert, aber gesellschaftlich akzeptiert. Wenn ein Mann seine Familie verlässt, dann ist es eben so. Zu dieser Haltung passt Putin sehr genau hinein. Als er sich 2013 von Ljudmilla Putina scheiden ließ, sank seine Zustimmung in der Bevölkerung nicht. Wie würden Sie das Verhältnis von Putin zu Frauen beschreiben? Putins Haltung gegenüber Frauen unterscheidet sich nicht grundlegend von der der meisten sowjetischen und postsowjetischen Führer. Auf die einfache Frage, ob Putin Frauen vertraut, lautet die Antwort aus seinem Umfeld übereinstimmend: nein. Das ist ein zentrales Merkmal. Er ist ein zutiefst patriarchalischer Mensch. Was aber sehr typisch für dieses politische Milieu ist. Haben Sie einen Vorfall im Sinn, der Putin besonders gut charakterisieren würde? Seine Ex-Frau Ljudmila beschrieb mal eine aufschlussreiche Szene: Damals arbeitete Putin für den KGB in Dresden . Das Paar war frisch verheiratet, die erstgeborene Tochter noch klein. Ljudmila schilderte, wie verzweifelt und erniedrigt sie sich gefühlt hat, als sie in einem Arm schwere Einkäufe und in dem anderen den Kinderwagen sechs Stockwerke hoch in ihre Wohnung schleppen musste, während Putin tatenlos zusah, wie sie sich abquälte. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit der zweiten Tochter schwanger. Sogar die Nachbarn hätten Putin ins Gewissen geredet. Ljudmilas Erinnerungen sind von Groll geprägt und stehen in starkem Kontrast zu Putins heutigem Gerede über Familienwerte. Putin lässt regelmäßig eine frauenfeindliche Haltung erkennen. Er reißt gerne solche Witze wie "Ich habe keine schlechten Tage, ich bin ja keine Frau". "Wenn es dir nicht gefällt, ertrag es, Schöne", ist ein weiterer beliebter Spruch Putins, der auf Vergewaltigung anspielt. Ist Putin ein Frauenhasser? Sein Humor ist primitiv und sexistisch. Aber er ist nicht ausgesprochen misogyn, er hasst nicht per se alle Frauen. Wenn Frauen ihm nützlich sind, dann kann er sie auch in hohe Positionen heben. Die russische Zentralbank wird von einer Frau geführt. Es gibt Vizepremierministerinnen. Vom Gleichgewicht der Geschlechter in seiner Administration oder Regierung kann trotzdem keine Rede sein. Putin folgt einer Logik des sowjetischen Schaulaufens: Man zeigt, dass Frauen vorhanden sind, ohne strukturell etwas zu verändern. Hat dieses Frauenbild Rückhalt in der Gesellschaft? Es stößt zumindest nicht auf breiten Widerstand. Putins patriarchale Haltung widerspricht der Mehrheit der Russen nicht fundamental. Das gilt sowohl für sein Verhältnis zu Frauen als auch für Familie und Religion. Es gibt viele Dinge an Putin, die den Russen missfallen könnten. Aber gerade diese Haltung gehört nicht dazu. Was sagt seine Haltung zu Frauen über Putin als Person aus? An sich ist Putin ein zutiefst sowjetischer Mensch. Was genau das heißt, lässt sich schwer in einem Satz erklären. Aber sein Frauenbild, sein Humor, seine patriarchalen Reflexe gehören eindeutig dazu – auch wenn er einen großen Teil seines Erwachsenenlebens bereits in einer anderen Epoche verbracht hat. Herr Rubin, vielen Dank für diesen Einblick in Putins Welt!
