TV-Debatte bei Anne Will: "Finger weg, never again" – TV-Physiker Harald Lesch reichen drei Minuten, um die Atomkraft zu zerstören
Die letzten drei verbliebenen deutschen Atommeiler stehen seit Samstag still – doch die Debatte geht weiter. Bei "Anne Will" wurde über Weiterbetrieb, Rückbau und die CO2-Rechnung für den Ausstieg gestritten. Highlights: ein wilder Söder-Diss und ein leidenschaftliches Anti-Atomkraft-Plädoyer eines Physikers.
Zwischen Apokalypse und Aufbruchseuphorie gibt es in diesen Tagen des Atom-Abschieds wenig. Entweder wird der Wirtschaftsstandort Deutschland zu Grabe getragen – adieu, Ammoniak-Produktion, ab jetzt wieder Agrarnation. Oder die Erneuerbaren flattern fröhlich im Wind und winken uns aus einer rosigen Zukunft entgegen. Im Line-up von "Anne Will" besetzten die "Welt"-Journalistin Dorothea Siems und die Grüne Katrin Göring-Eckardt diese beiden Extreme.STERN PAID 15_23 Kernkraftwerke DAs EndeEiner Freundschaft 08.39
Siems tat das mit einer kommunikativen Bulldozer-Strategie, die an schlechtes Benehmen grenzte. Und Göring-Eckardt legte eine Wird-schon-alles-Attitüde an den Tag, die schon fast Merkelsche Züge trug. Gleichwohl war die Debatte aufschlussreicher und nachdenklicher als erwartet. Und als der FDP-Vertreter zu einem ziemlich wilden Diss gegen Markus Söder ausholte, wurde es sogar kurzzeitig lustig.
Zu Gast bei "Anne Will" waren:
- Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), Bundestagsvizepräsidentin
- Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt
- Harald Lesch, Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist
- Dorothea Siems, Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik "Die Welt"
- Johannes Vogel (FDP), Stellvertretender Bundesvorsitzender
"Fragen Sie mal bei einem Flugzeug in Turbulenzen nach Atheisten", konterte Harald Lesch, als ihm Anne Will die aktuellen Umfrageergebnisse präsentierte. 59 Prozent der Deutschen sind für einen Weiterbetrieb der drei AKW, 34 Prozent dagegen. Angesichts der Energiekrise, die für die meisten ja eine Preiskrise ist, ist Deutschland wieder voll auf Atom. Für Lesch ist dies nur ein wenig belastbares Stimmungsbild. In drei Minuten nahm der Physiker die "Hochrisikotechnologie" dermaßen auseinander, dass sich jede weitere Diskussion eigentlich erübrigt hätte.
1900 Castor-Behälter als "Geschenk" für kommende Generationen
Keine Versicherung dieser Welt wolle Atomkraftwerke versichern, argumentierte er unter anderem, "das sollte uns schon aus ökonomischer Sicht sagen: Finger weg, never again." Über die 1900 verstrahlten Castor-Behälter, die wir den zukünftigen Generation als "Geschenk" hinterließen und die irgendwann noch unter Tage müssten, sprächen die Nuklearfans nicht so gerne. Zudem liefen wir in Europa auf Klimaszenarien zu, die vor allem Frankreich mit seinen fast 60 Reaktoren schon jetzt vor "Riesenprobleme" stellte. "Die haben gerade kaum Wasser zum Kühlen. Im Sommer dann gar keins mehr."
In Bezug auf die erneuerbaren Energieformen sieht Lesch "Anpassungsschwierigkeiten", weil sich die Gesellschaft plötzlich auf "natürliche Rhythmen" einstellen müsse – anstatt wie bisher 24/7 Energie zur Verfügung gestellt zu bekommen. Der Klimapreis, der seiner Meinung nach für die Energiewende zu zahlen ist: "10 bis 15 Jahre lang viel höhere CO2-Emissionen, als wir sie haben wollen." Hier hakte Reiner Haseloff ein, selbst Diplom-Physiker. Noch nie sei so viel Braunkohlestrom erzeugt worden wie heute. Dorothea Siems schoss in dieselbe Richtung und lieferte gleich noch eine perfide Osteuropa-Abwertung mit: "Wir sind so dreckig wie sonst nur Polen und Tschechien."
"Söder wechselt seine Positionen wie Unterhosen"
Sollten die drei abgeschalteten Meiler also in Reserve gehalten und ihr Rückbau aufgeschoben werden? Unbedingt, finden Haseloff und Siems. "Man steigt erst aus, wenn man irgendwo eingestiegen ist", formulierte der CDU-Ministerpräsident pointiert und verwies auf die für ihn noch nicht ausreichenden Speicherkapazitäten der Erneuerbaren. Auch der FDP-Mann Johannes Vogel ist für ein Abwrack-Moratorium. Seine Idee: Statt der drei Atomkraftwerke solle man lieber drei Kohlekraftwerke stilllegen. Angesprochen auf die jüngsten Auslassungen von Markus Söder, Isar 2 in bayerischer Eigenregie weiterzubetreiben, ging Vogel in die Vollen. "Söder wechselt seine Positionen wie Unterhosen", spottete er. 2011, als sich Fukushima ereignete, habe der CSU-Chef mit Rücktritt gedroht, als die FDP gefordert habe, den Meiler noch bis 2025 statt 2022 am Netz zu lassen. Noch vor zwei Jahren, beim zehnten Jahrestag der Katastrophe, habe Söder damit geprahlt, als erster für die Abschaltung gewesen zu sein. Vogel: "So jemand Erratischem würde ich ungern die Verantwortung für die Energiepolitik überlassen."
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Die vor allem gerade vom Unionslager gedroppten nuklearen Technologieversprechen wie Transmutation oder Kernfusion schickte Harald Lesch ins Reich der Fantasie bzw. einer sehr fernen Zukunft. Für die Transmutation etwa, also die Verwertung von radioaktivem Müll für den Betrieb eines AKW, existiere noch nicht einmal eine richtige Forschungsanlage. Wirksam sei das Konzept frühestens in 25 Jahren. Und auch die Erwartung, die drei vieldiskutierten Reaktoren könnten im nächsten Winter so ohne weiteres wieder ans Netz geworfen werden, enttäuschte der Wissenschaftler. Sie müssten einer "erheblichen Revision" unterworfen werden. Lesch: "Dafür, die Meiler noch weiterlaufen zu lassen, hätte man sich früher entscheiden müssen."