In den Händen der Hamas: Israelische Psychologin über Geiseln: "Viele sind am Rande des Wahnsinns"
Psychoanalystin Ofrit Shapira-Berman kämpft gegen die Gräuel der Hamas, indem sie ihr traumatisiertes Land betreuet. Ein Gespräch über mehr als 200 Tage in Geiselhaft und das Stockholm-Syndrom in den Tunneln unter Gaza.
Frau Shapira-Berman, vor wenigen Tagen veröffentlichte die Hamas Videos zweier israelischer Geiseln in Gaza. Sie sind – wie viele andere auch – seit über 200 Tagen in Gefangenschaft der Terroristen. Was macht diese Erfahrung mit der menschlichen Psyche?
Ich glaube, dass sie ihren Verstand abgeschaltet haben. Es ist eine Mischung aus schwerer Depression und Überlebensmodus. Ein einzigartiger Geisteszustand, denn während einer Depression sind Überlebensinstinkte eigentlich nicht sonderlich ausgeprägt. Nun befinden sich diese Menschen einerseits in einem Zustand, den wir in der Psychologie "Angelernte Hilflosigkeit" nennen: Das Gefühl, dass – egal, was man auch tut – nichts hilft. Und andererseits müssen sie wachsam und auf das Schlimmste gefasst sein. Zumindest die Stärkeren unter den Geiseln werden sich noch an die Hoffnung klammern, freigelassen zu werden.
Schwindet diese Hoffnung nicht von Tag zu Tag?
Ja. Ich bin mir ziemlich sicher: Viele derjenigen, die noch am Leben sind, sind entweder sehr krank oder am Rande des Wahnsinns.
Es wird davon ausgegangen, dass viele der noch rund 130 verbliebenen Geiseln bereits tot sind.
Die älteste Geisel ist 86 Jahre alt. Soweit ich weiß, sind mindestens zehn Gefangene über 77. Andere haben schlimme Verletzungen. Ich befürchte, in diesem Alter und in solch einem Zustand kann man keine sieben Monate Gefangenschaft überleben. Es gibt nicht genug zu essen, zu trinken, keine Medikamente.
Die meisten werden in Tunnelsystemen gehalten. Ohne Tageslicht, manche wohl auch ohne Mitgefangene. Gibt es Strategien, solch einen Zustand mental zu überleben?
Viele Geiseln, die freigelassen wurden, erzählen uns, dass sie nach täglichen Routinen gesucht haben, um irgendwie gegen die Angst anzukämpfen, jeden Moment umgebracht werden zu können. Diejenigen, die nicht verwundet waren, machten Sport. Andere konnten Kartenspielen oder in Notizbücher malen. Eine junge Frau, die ich gerade behandle, wurde schwerverletzt allein gefangen gehalten. Sie konnte mit niemandem reden. Also begann sie, die Terroristen anzusprechen, um gemocht und nicht vergewaltigt zu werden.
In speziellen Sicherheitstrainings bekommt man beigebracht, sich während einer Geiselhaft an kleinen positiven Dingen hochzuziehen: Eine Flasche Wasser, die Toilette, der Fakt, dass man überlebt hat.
So ist es. Ich frage mich aber, ob das den Leuten in Gaza wirklich hilft. Die meisten Geiseln sind keine Soldaten, sondern Frauen, Kinder, junge Männer, die nie darauf vorbereitet wurden, in Gefangenschaft zu sein. Nichts kann ein 19-jähriges Mädchen auf eine solche Erfahrung einstellen.
Sie behandeln viele ehemalige Geiseln und ihre Familien. Was erzählen Sie Ihnen von ihrer Zeit in Gaza?
Viele wurden körperlich und sexuell belästigt, manche missbraucht. Und alle von ihnen psychisch misshandelt. Die Hamas erzählte ihnen, dass Israel Geschichte sei, dass niemand sich für sie interessiere, dass es ihre Kibbuzim nicht mehr gebe. Und dass sie früher oder später ohnehin durch die Bomben der israelischen Armee sterben würden. Viele glaubten daran. Sie hatten wahnsinnige Angst vor den israelischen Militärschlägen.
Aktuell scheint die israelische Regierung kurz vor einem Deal mit der Hamas zu stehen. Bekommen die Geiseln so etwas mit?
Die zuletzt veröffentlichten Aufnahmen der beiden Geiseln, die Sie angesprochen haben, deuten darauf hin. Die zwei sagten, sie wüssten von den vielen Demonstrationen in Israel, die einen Deal fordern. Sie baten darum, weiter für sie zu kämpfen. Manche wissen also Bescheid. Manche haben noch nicht einmal erfahren, was wirklich am 7. Oktober passiert ist. Es kommt darauf an, von wem genau die Geiseln gehalten werden. Die Terroristen sind nicht alle zum selben Grad böse und grausam. Manche sind auch ein wenig zuvorkommender als andere. Es gab Geiseln, denen nichts getan wurde. Und mindestens drei kleine Kinder, die hart geschlagen wurden.
© Hamas Military Wing
Manche ehemaligen Geiseln sagen auch, Sie seien gut behandelt worden. Kann man selbst in einem Tunnel voller Terroristen ein Stockholm-Syndrom entwickeln, also ein Mitgefühl für seine Kidnapper?
Ich glaube sogar, dass viele bis zu einem gewissen Grad ein Stockholm-Syndrom entwickelt haben. Und zu unserer großen Überraschung passiert das nicht nur aufseiten der Geiseln, sondern auch aufseiten der Kidnapper. Manche fühlten sich regelrecht hingezogen zu ihren Gefangenen. Das macht eine psychiatrische Behandlung auch so schwierig.
Wie zeigt sich die Traumatisierung ihrer Patienten?
Teilweise sind es gewöhnliche Merkmale: Sie sind ängstlich, sehr alarmiert. Wenn jemand auch nur an der Tür klopft, springen sie auf. In Menschenmengen drehen sie sich oft um, weil sie jemanden verdächtigen. Was ihren Zustand aber so einzigartig macht: Ihr Trauma ist sozusagen aufgeschoben. Alle sagen unabhängig voneinander: Sie können ihren Heilungsprozess nicht beginnen, ehe auch all ihre engen Verwandten und Freunde aus Gaza freikommen. Sie warten einfach nur. Nichts interessiert sie. Nichts macht ihnen Freude. Eine Patientin, die ich bereits seit vier Monaten behandle, habe ich noch nicht einmal weinen sehen.
Viele wussten bis zu ihrer Freilassung nicht, dass Familienmitglieder am 7. Oktober grausam ermordet wurden. Ein doppeltes Trauma?
Die meisten hatten keine Ahnung davon. Und auch hier können sie nicht wirklich trauern, weil jeder darauf wartet, dass alle Geiseln freikommen. Zwischen ihnen ist während der Gefangenschaft ein starkes Band entstanden. Aber der Krieg geht weiter. Viele Geiseln haben kein Haus, in das sie zurückkehren können. Sie leben im Hotel oder einer temporären Unterkunft. Es ist, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Das Trauma zieht endlose Kreise. Wenn wir sonst Traumapatienten behandeln, dann sprechen wir mit ihnen immer über einen Zustand vor der Traumatisierung, über eine Basis, zu der wir zurückwollen. Hier gibt es keine Basis.
Haben diese Menschen überhaupt eine Chance auf ein normales Leben?
Ich glaube nicht, dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren können. Es gibt kein Zurück. Das ist für immer verloren. Sie müssen sich eine neue Normalität erschaffen. Und das wird sehr schmerzhaft werden. Das gilt auch für die Geiselfamilien. Ich selbst weiß nicht, ob ich überlebt hätte, wäre eines meiner Kinder nach Gaza verschleppt worden. Ich behandle derzeit eine Familie, deren Tochter noch von der Hamas gefangen gehalten wird. Ich weiß nicht, ob sie dieses Trauma je überwinden wird. Ihre Vorstellungen von dieser Welt wurden im Innersten erschüttert.
Gibt es in Israel genug Kapazitäten, um all diese Traumata zu behandeln?
Natürlich nicht. Es gibt nicht genügend Therapeuten. Die Überlebenden des Nova-Festivals zum Beispiel haben einen staatlichen Anspruch auf nur zwölf psychiatrische Sitzungen, mit Aussicht auf zwölf weitere. Das war es. Obwohl sie wirklich sehr traumatisiert sind.
Der französische Journalist Brice Fleutiaux nahm sich nach siebenmonatiger Geiselhaft in Tschetschenien 2001 das Leben. Der Brite Terry Waite wurde in den 80ern insgesamt vier Jahre lang im Libanon gefangen gehalten und kümmerte sein späteres Leben um andere Geiseln und ihre Familien. Menschen scheinen auf solche Erfahrungen sehr unterschiedlich zu reagieren.
Das werden wir im Fall der Geiseln erst in Zukunft herausfinden. Und es kommt sehr darauf an, was sie in Gefangenschaft erlebt haben. Es ist eine Sache, wenn eine Frau vergewaltigt wurde. Eine ganz andere, wenn sie davon sogar schwanger wurde. Die schlimmsten Fälle sind immer noch gefangen in Gaza.