Netanjahu unter Druck: Der Krieg erstickte die Proteste in Israel – nun flammen sie wieder auf
Ein Land im Kriegszustand beginnt, sich gegen den Ministerpräsident aufzulehnen. In Israel flammen in diesen Tagen neue Proteste auf. Diverse Gruppierungen kommen zusammen, ein geeintes Ziel gibt es kaum. Fürchten sollte sich Benjamin Netanjahu trotzdem.
Israel erlebt in diesen Tagen die größten Demonstrationen seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfall der Hamas, und dem darauf folgenden Krieg im Gazastreifen. Doch wer demonstriert – und mit welchem Ziel?
Warum wird in Israel demonstriert?
"Wenn man auf eine Demonstration geht, und nicht genau sagen kann weshalb, weil es so viele Gründe gibt zu protestieren – das ist die Situation in Israel", sagt der israelische Kriegsfotograf Kobi Wolf dem stern. "Es gibt sehr viel Wut in diesem Land." Den vierten Tag in Folge waren am Dienstag Tausende Israelis in Tel Aviv, Jerusalem oder Haifa auf den Straßen. Die Wut entlädt sich – gegen die Regierung und die Kriegsführung von Benjamin Netanjahu.
Einige fordern Neuwahlen und den Rücktritt von Netanjahu. Andere fordern einen sofortigen Deal mit der Hamas, um die im Gazastreifen verbliebenen Geiseln nach Israel zu holen. In einem ersten Abkommen im November wurden etwa 100 Geiseln freigelassen. Weitere 100 Geiseln sind Schätzungen zufolge noch am Leben und befinden sich nach wie vor in den Händen der Terrororganisation.Kobi_Wolf 1610
Wer geht auf die Straße?
Kurz gesagt: Unterschiedliche Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielen. Regierungskritiker, die im vergangenen Jahr schon gegen die mittlerweile auf Eis gelegte Justizreform protestierten, sind auch jetzt wieder auf den Straßen.
Mit diesen Kritikern hat sich ein Teil der Geisel-Angehörigen vereint, die sich seit sechs Monaten in Gefangenschaft um Freunde und Familie sorgen. Diese gehören zu den schärfsten Kritikern des Premierministers. Einav Zangaukers Sohn Matan wird nach wie vor im Gazastreifen festgehalten. Sie demonstriert deshalb mit und sagt dem britischen "Guardian" in Richtung Netanjahus: "Wenn wir nicht sofort handeln, um Ihnen das Steuer zu entreißen, werden wir nicht erleben, dass unsere Lieben lebendig und schnell nach Hause zurückkehren", so Zangauker am Sonntag. "Und wir werden nicht erleben, dass unsere Toten zur Beerdigung nach Israel zurückgebracht werden."
Doch die Familien sind gespalten, sagt Kobi Wolf dem stern. "Manche der Geisel-Angehörigen schließen sich den regierungskritischen Protesten an. Andere halten lieber die Füße still und wollen die Regierung ihre Arbeit machen lassen, um einen möglichen Deal nicht zu gefährden."
Gleichzeitig sind ultraorthodoxe Juden auf der Straße. Diese waren über Jahrzehnten von der Wehrpflicht ausgenommen, bis das Höchste Gericht diese Praxis im vergangenen Jahr kippte. Der rechtskonservativen Regierung war es aber nicht gelungen, diese Ausnahmen in ein Gesetz zu gießen. Ultraorthodoxe Männer im wehrpflichtigen Alter können seit dem 1. April deshalb eingezogen werden. Medienberichten zufolge handelt es sich um mehr als 60.000 Männer.
Warum tragen so viele Menschen Israel-Flaggen bei sich?
Der Einigkeit wegen – und wegen des Versuch, sich von der Regierung zu distanzieren. Nachdem in Israel in den ersten Monaten des Krieges eher selten Kritik geäußert wurde, kippt das Wir-Gefühl. Wie auch außerhalb Israels gibt es hier geteilte Meinungen zu Verhandlungen mit den Hamas, dem Krieg in Gazastreifen und dem Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung. Das machen die Demonstrierende nun sichtbar.
"Wir haben uns sechs Monate lang zurückgehalten", sagte Michal Begin am Wochenende der "New York Times", eine Ärztin aus Jerusalem. "Am Anfang hatten wir das Gefühl, dass wir um der Kriegsanstrengungen Willen zusammenhalten müssen". Das habe sich geändert, so Begin: "Unser Bedürfnis, für die intensiven Kriegsanstrengungen zu mobilisieren, hat abgenommen. Jetzt können wir sagen, dass diese Regierung nicht weiter dienen kann."
Im Januar zog auch der Kriegsfotograf Kobi Wolf im stern eine bittere Zwischenbilanz: "Dieser Krieg treibt unser Land auseinander. Israel hat ihn bereits verloren, egal wie viele Hamas-Terroristen sterben."
Von den Protesten gibt es heftige Bilder, ist die Situation (noch) friedlich?
Nicht überall. In Jerusalem haben Demonstrierende etwa 100 Zelte vor der Knesset aufgebaut, dem israelischen Parlament. Viele protestierten am Dienstag den vierten Abend in Folge friedlich, zum Teil mit Fackeln in der Hand. Israelischen Medien zufolge versammelten sich einige Protestierende aber auch vor dem Privathaus Netanjahus und durchbrachen die Absperrungen der Polizei. In einer Erklärung sprach die Polizei von "Tumulten", es habe fünf Festnahmen gegeben und ein Beamter sei verletzt worden. Die Polizei ging mit Wasserwerfern heftig gegen die Demonstrierenden vor. Medien berichteten auch, die Einsatzkräfte hätten einige Demonstranten gewaltsam auseinandergetrieben.
Das aggressive Vorgehen der Demonstranten kritisierte auch der Oppositionelle Benny Gantz. "Ein Protest ist legitim, der Schmerz ist auch verständlich", schrieb Gantz am Mittwochmorgen bei X, vormals Twitter. "Aber das Gesetz und die Spielregeln müssen respektiert werden."
Was sagt Benjamin Netanjahu zu den Protesten?
Insbesondere die Familien der Geiseln werfen dem Ministerpräsidenten vor, seinen politischen Machterhalt über das Leben der verbliebenen Geiseln zu stellen. Sie fordern teils Neuwahlen.
Diese Kritik weist Benjamin Netanjahu von sich. Er sei verpflichtet, alle Geiseln heimzuholen, sagte er kürzlich. Eine Neuwahl werde die Verhandlungen über die Freilassung weiterer Geiseln lähmen und "ein Ende des Krieges herbeiführen, bevor die Ziele erreicht sind", so Netanjahu. Israel will die islamistische Hamas im Gazastreifen zerschlagen.
Die Beliebtheitswerte des Regierungschefs sind jedoch im Keller. Eine Umfrage des Israel Democracy Institute (IDI) hatte im Januar ergeben, dass lediglich 15 Prozent der Israelis dafür sind, dass Netanjahu nach Kriegsende noch im Amt bleibt. Auch die Kritik von rechter Seite kommt denkbar ungelegen. Beobachter äußern immer wieder: Ausgerechnet die Rechten könnten den rechtskonservativen Netanjahu am Ende zu Fall bringen.
Weitere Quellen: "New York Times", CNN, "The Times of Israel", Reuters, mit Informationen der DPA